Von Caroline Ferstl
"Wir hatten diese Art von Gewalt zuerst überhaupt nicht am Schirm", erzählt Orit Sulitzeanu. Die Israelin spricht schnell und bewegt ihre Hände dabei, als wolle sie wo viele Informationen wie möglich in jeden Satz packen.
Sulitzeanu ist Chefin der NGO "The Association of Rape Crisis Centers in Israel"; sie hilft Frauen in Israel, die sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen erleben oder erlebt haben. Kurz nach dem 7. Oktober 2023, das Land stand (und steht) nach dem Angriff der islamistischen Hamas unter Schock, meldeten sich immer mehr Menschen bei ihr, "die sagten, sie hätten von Vergewaltigungen der Hamas gehört oder seien Zeuge geworden. Es dauerte ein paar Tage, bis wir einordnen konnten, dass wir es mit einer Kriegsstrategie zu tun hatten", so Sulitzeanu.
Die meisten, die sich an die NGO wandten, waren Augenzeugen oder Soldaten, die nach dem Angriff der Hamas nackte und verstümmelte Frauenleichen fanden. "Die Hamas hat die meisten Frauen nach der Vergewaltigung ermordet. Die, die überlebten und nicht in Geiselhaft genommen wurden, überlebten durch Zufall – etwa weil jemand dazwischenkam", sagt Sulitzeanu.
Wie viele Frauen es sind, wisse man nicht. Nur die wenigsten Opfer würden selbst die Stimme erheben und an sich erinnern. Die Israelin Amit Susana war die Erste, die öffentlich über ihre Vergewaltigungen in Geiselhaft sprach. Sie berichtete am Dienstag imWeißen Haus über ihre Tortur. Sulitzeanu sagt: "Wir suchen auch nicht nach den Opfern, das widerspricht unseren ethischen Grundlagen." Sich dem Trauma zu stellen, sei für viele (noch) nicht möglich.
Opfer fühlen Scham und Erniedrigung
Noch dazu überwiegen Gefühle von Scham und Erniedrigung bei den Opfern. "Uns wird von klein auf beigebracht, Israel müsse stark sein, müsse kämpfen, um zu überleben. Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, ist eine Schwäche", sagt die israelische Anwältin Carmit Klar-Chalamish.
Beide Frauen üben Kritik an der israelischen Regierung: Schon vor dem Krieg sei zu wenig für die Opfer sexualisierter Gewalt getan worden. "Jetzt sind alle Psychologen und Psychiater ausgebucht, weil jeder traumatisiert ist." Den Überlebenden des Terrorangriffs habe die Regierung 12 Therapie-Einheiten ermöglicht – "viel zu wenig. Und viele wissen nicht einmal, dass ihnen das zusteht oder wie sie diese beantragen können."
Und dann wären da noch jene Frauen, die sexualisierte Gewalt vor dem 7. Oktober erlebt haben. "Wir haben im Februar in einer Umfrage bei unseren Klientinnen nachgefragt, wie es ihnen gehe. Sie haben sich bedankt, dass sie jemand danach fragte", erzählt Klar-Chalamish.
Viele von ihnen seien retraumatisiert von den Berichten über die Vergewaltigungen – und hätten das Gefühl, ihr individuelles Trauma werde in der Gesellschaft als "weniger schlimm" gesehen als jenes der Vergewaltigungsopfer der Hamas. "Diese Frauen verspüren eine Hierarchisierung der Traumata", so Sulitzeanu.
Verleugnet von Feministinnen
Mit ihrem Besuch in Wien (auf Einladung der ÖIG, der Österreichisch-israelischen Gesellschaft, Anm.) wollten die Aktivistinnen Bewusstsein schaffen für die Gewalttaten der Hamas an Israelinnen. "Die Opfer werden wohl nie Gerechtigkeit erfahren. Die Terroristen, die ihnen das angetan haben, werden kaum identifiziert, gefunden oder strafrechtlich verfolgt werden. Daher muss die Welt hinschauen und darüber sprechen."
Besonders schlimm sei es, so Sulitzeanu, wenn Feministinnen die Taten der Hamas anzweifelten – wie die bekannte US–Philosophin Judith Butler. "Menschlichkeit, die sexualisierte Gewalt leugnet, ist nicht menschlich."
Kurier, 18.06.2024